Traumatisierung politischer Gefangener in der DDR: Schweres Erbe
Die Wunden sind noch lange nicht verheilt: Schikanen, wie Verhöre zur Nachtzeit, Isolierung und Informationssperren für Häftlinge waren keine Seltenheit – die politischen Gefangenen der DDR leiden bis heute an den Folgen der Haftumstände.
Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Justiz waren rund 200 000 Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik in den Jahren 1949 bis 1989 aus politischen Gründen inhaftiert.
Nach offiziellen sowjetischen Angaben waren außerdem zwischen 1945 und 1949 rund 123 000 Männer und Frauen in der Sowjetischen Besatzungszone in Speziallagern interniert. Bei diesen Gefangenen handelte es sich vor allem um Nazifunktionäre aus dem einfachen und mittleren Dienst, später auch um ehemalige Mitglieder kommunistischer und linkssozialistischer Gruppen und um Sozialdemokraten. „Schlaf- und Essensentzug, tage- und nächtelange Dauerverhöre, Einzelhaft, Steh- und Wasserkarzer und physische Misshandlungen waren während der Untersuchungshaft die Regel“, weiß die Berliner Psychologin Dr. Doris Denis. Die überbelegten Baracken, in denen die Lagerhäftlinge untergebracht wurden, waren verwahrlost, voller Ungeziefer und nur spärlich beheizt. Auch die mangelhafte Verpflegung, die den Kalorienbedarf eines erwachsenen Menschen nicht annähernd deckte, zehrte an der Gesundheit der Inhaftierten. Erkrankungen wurden gar nicht oder nur unzureichend medizinisch behandelt. Ehemalige Lagerhäftlinge, und durchaus nicht nur weibliche, berichteten von Vergewaltigungen durch die Aufseher.
Missliebige Äußerungen galten als Staatsverleumdung
Nach den Definitionen der Vereinten Nationen entsprachen die damaligen Haftbedingungen und Verhörmethoden psychologischer und häufig auch körperlicher Folter. Bis 1949 verstarb etwa ein Drittel der Häftlinge unter den extremen Bedingungen. In den ersten Jahren nach der Gründung der DDR änderten sich die Haftbedingungen nur geringfügig und blieben auch nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 für die Häftlinge äußerst belastend.
In den 50er- und 60er-Jahren wurden vorrangig Personen verhaftet, die sich nicht konform mit den gesellschaftlichen Zielen und der Verstaatlichungspolitik der DDR zeigten. In den Jahren nach dem Mauerbau bis zur politischen Wende 1989 stellten unter den politischen Häftlingen der DDR die sogenannten Republikflüchtlinge die größte Gruppe dar (40 bis 50 Prozent). In den 80er-Jahren inhaftierte man in der DDR darüber hinauszunehmend Personen, die öffentlich für ihren Ausreiseantrag eingetreten waren (15 bis 25 Prozent). Missliebige Äußerungen galten als „staatsfeindliche Hetze“, „Staatsverleumdung“ oder „öffentliche Herabwürdigung“ (zehn bis 20 Prozent). Dem Regime nicht genehme Kontakte oder Informationsweitergaben in die BRD wurden als „Verbindungsaufnahme“ beziehungsweise „Nachrichtenübermittlung“ verfolgt (ein bis fünf Prozent).
Die Verhaftung von DDR-Flüchtlingen geschah in der Regel in flagranti, das heißt am jeweiligen Grenzabschnitt des Fluchtversuchs. Regelmäßig setzten die DDR-Grenztruppen dabei Schusswaffen ein. Eine große Anzahl von DDR-Flüchtlingen wurde schon im Vorfeld ihres eigentlichen Versuchs verhaftet, teils auf Fahrten zu Grenzabschnitten, teils in der Vorbereitungsphase zu Hause. Der Zeitpunkt der meisten Verhaftungen war für die Betroffenen überraschend.
Bis zum Ende der DDR waren die Haftumstände belastend
Anschließend wurden die meisten Betroffenen ohne Nennung eines Ziels in die Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit gebracht und blieben dort Wochen bis viele Monate.
Mit den Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung verbesserten sich die Bedingungen in den Haftanstalten zu Beginn der 70er-Jahre. Dennoch waren die Haftumstände auch in den 70er- und 80er-Jahren bis zum Ende der DDR äußerst restriktiv und für die Häftlinge sehr belastend. Die Methoden der Einschüchterung und Entehrung wurden weniger massiv, dafür subtiler. Politische Inhaftierung in diesen Jahren ging mit einem hohen Maß an Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit einher. In den Verhören wurden die Häftlinge gezielt desinformiert und getäuscht. Häufig wechselten ein freundlicher und ein bedrohlicher Vernehmer, um die Inhaftierten zu verunsichern. Es wurden ihnen Prügel, der Entzug von Besuchs- und Schreiberlaubnis, die unbefristete Verlängerung der Untersuchungshaft oder die Benachteiligung und Inhaftierung von Angehörigen angedroht. Auch Todesdrohungen gegen die Inhaftierten und deren Familien gab es. Häufig deuteten die Verhörer nur vage an, dass der Gefangene das Gefängnis nie mehr oder als anderer Mensch verlassen werde, außerdem enthielten sie ihm Informationen über den weiteren Verlauf der Inhaftierung vor; das zersetzte die Gefangenen oft mehr als konkrete Strafmaßnahmen. Die Häftlinge wurden mit Nummern angeredet, die der Lage ihrer Pritschen in den Zellen entsprachen. Nachts wurde das Licht in regelmäßigen Abständen an- und ausgeschaltet und dabei die vorgeschriebene Schlafposition (auf dem Rücken liegend mit unbedecktem, nach oben gerichtetem Gesicht) überprüft. Oft musste völlig unerwartet die Zelle oder sogar das Gefängnis gewechselt werden. Die Inhaftierten blieben im Ungewissen darüber, welche Schikanen sie noch erwarteten und was mit ihren Angehörigen passierte. Zensur von Briefen und Kontaktsperre machten es unmöglich, Angaben der Verhörer zu überprüfen und verlässliche Informationen über das Schicksal von Familienangehörigen und Freunden zu erhalten. Üblich während der Untersuchungshaft waren außerdem Nachtverhöre, Schlafentzug, Isolationshaft und Dunkelzelle sowie belastende Haftbedingungen, zu denen unter anderem Arrestierungen und Isolationshaft für Tage, Wochen, Monate und Jahre (das heißt absolute Kontaktsperre nach draußen, keinerlei Beschäftigungsmöglichkeiten, Liegen auf der Pritsche nur nachts, keine Selbstgespräche, Dauerbeaufsichtigung, maximal fünf Schritte gehen in jede Richtung), das Zusammengesperrt sein mit Schwerkriminellen, Kontaktsperren zu Angehörigen sowie Zwangsarbeitsbedingungen bei fehlendem Arbeitsschutz zählten.
54 ehemalige politische Gefangene, die zwischen 1945 und 1971 inhaftiert und im Rahmen einer Studie befragt worden waren, erlebten vor allem die schlechte Unterbringung und Versorgung sowie psychische Folter als belastend. Sie berichteten von Nachtverhören, Schlafentzug, ständigem Laufen müssen in abwechselnd eiskalter und heißer Zelle, Einzelhaft, Steh- und Wasserkarzer, Dunkelzellen und von Scheinhinrichtungen des Gefangenen selbst oder von Mitgefangenen. Auch körperliche Misshandlungen waren an der Tagesordnung, etwa Ausschlagen von Zähnen, Schläge und Elektroschocks. Darüber hinaus hatten die Befragten unter Schikanen von Wärtern und Verhörern zu leiden, wie Blenden bei Verhören, demonstrativem Essen vor dem hungernden Häftling, Anschreien, Aufsetzen von Dunkelbrillen, stundenlanges Stehen, Ansprache als Nummer, Entkleiden vor dem Wachpersonal, Duschen unter Beobachtung, Scheren der Haare und Verbot, die Toilette zu benutzen. Weitere Belastungen entstanden durch schlechte Arbeitsbedingungen, Kontaktsperre und Zensur, Zellenüberwachung, Bespitzelung, Drohung mit Repressalien sowie Vergewaltigungen und Gewaltanwendung.
Die Staatssicherheit ging unberechenbar vor
Im Zuge der Ratifizierung des UNO- Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte im November 1973 schien die politische Toleranzbreite in der DDR größer zu werden. Es konnten offizielle Ausreiseanträge gestellt werden, und die Strafmaße in politischen Prozessen fielen milder aus als in den Jahren davor. Hinter diesen scheinbaren Verbesserungen verbargen sich jedoch verdeckte Methoden der Verfolgung. Die Staatssicherheit ging unberechenbar vor und wollte Exempel statuieren. Politisch unliebsame Personen wurden nicht mehr jahrelang inhaftiert, waren aber neben häufigen und unvorhersehbaren Verhören und kürzeren Gefängnisstrafen intensiven Bespitzelungen und sogenannten Zersetzungsmaßnahmen ausgesetzt. Sie reichten von Telefonterror, massenhaften Warenbestellungen im Namen des Betroffenen, Berufsverbot und gezieltem Streuen von Gerüchten bis zu diversen Alltagsbehinderungen wie zum Beispiel dem ständigen Beschädigen des für den Arbeitsweg benötigten Fahrzeugs. Nicht selten drangen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes mit Nachschlüsseln in die Wohnung der Betreffenden ein, veränderten oder stahlen einzelne Gegenstände und brachten Abhörgeräte an. Diese Verfolgungspraxis zielte auf Verunsicherung, Isolation und Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Betroffenen und schuf in vielen Fällen eine Atmosphäre des Misstrauens, der Ohnmacht und der Angst. Die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit sowie das Auseinanderbrechen von Familien und Freundeskreisen waren dabei häufige soziale Folgen, die durchaus von der Staatssicherheit beabsichtigt waren. „Der Anstieg der Zahl der Mitarbeiter im Ministerium für Staatssicherheit von 52 000 im Jahr 1973 auf 83 000 im Jahr 1983 macht deutlich, dass es sich bei diesen Zersetzungsmaßnahmen nicht um zufällige, sondern um gut geplante und mit hohem Personaleinsatz durchgeführte Repressionsmaßnahmen handelte“, so Denis.
Ehemalige Inhaftierte leiden unter den Langzeitfolgen
Viele ehemalige Bespitzelte und Inhaftierte litten jahrzehntelang und leiden selbst heute noch unter den Langzeitfolgen von Verfolgung und Haft. Das ergab zum Beispiel eine Studie an der HU Berlin, bei der Psychologen Ende der 90er-Jahre 384 ehemals politisch Inhaftierte der DDR befragten. 62 Prozent gaben aktuelle psychische Störungen aufgrund der Haft an, vor allem Schlafstörungen und Ängste. 40 Prozent waren während der Haft misshandelt worden, und 17 Prozent berichteten von Lebensgefahr in der Verhaftungssituation. Die erlebte Lebensgefahr erhöhte das Risiko psychischer Beschwerden um das 1,9-fache, während Lebensgefahr und Misshandlungen es um das 2,8-fache erhöhten. Eine Studie, die an der TU Dresden durchgeführt wurde, ergab, dass jeder Dritte von 146 ehemaligen politischen Gefangenen auch noch Mitte der 90er-Jahre unter einer PTBS und komorbiden Störungen wie Ängsten, somatoformen und depressiven Störungen litt. Das äußerte sich laut einer Studie der FU Berlin zum Beispiel in Panikanfällen, Angst vor engen Räumen mit geschlossenen Türen, tiefem Misstrauen gegenüber anderen Menschen (insbesondere Männern), Furcht vor erneuten, negativen Erlebnissen, Hoffnungslosigkeit, Albträumen und quälenden Erinnerungen, die durch Alltagsereignisse ausgelöst wurden. Neuere wissenschaftliche Studien wiesen außerdem eine Vielzahl psychischer Veränderungen nach Extrembelastungen und Traumatisierungen (insbesondere bei länger währenden, wiederholten Traumata) nach, die nicht unter die Diagnose der PTBS gefasst werden können. Es handelt sich dabei um Störungen der Affekt- und Impulsregulation, vor allem um Schwierigkeiten im Umgang mit Wut und Ärger, um dissoziative Symptome, um selbstzerstörerisches und suizidales Verhalten, um Beeinträchtigungen des Identitätsgefühls und um interpersonelle Störungen, wie die exzessive Beschäftigung mit Rachegefühlen, Sozialphobie und Sinnverlust.
Viele, aber längst nicht alle ehemals politisch Gefangenen entwickelten infolge der Haft eine PTBS. Mit den Gründen für die interindividuellen Unterschiede befassten sich Psychologen der Universitäten Oxford und Dresden, indem sie 26 Personen mit einer chronischen PTBS und 26 Nichtbetroffene interviewten. Die Gruppen waren hinsichtlich objektiv erlittener Haftbedingungen oder soziodemografischer Merkmale vergleichbar. Allerdings berichtete die Mehrzahl der PTBS-Betroffenen von Momenten des Sich-Aufgebens während der Haft, wohingegen Nichtbetroffene eine autonome Geisteshaltung, einen freien, ungebrochenen Willen und eine regimekritischere Haltung bewahren konnten und sich nicht aufgaben. Die Personen mit PTBS fühlten sich gegenüber anderen Menschen stärker entfremdet und hatten den Eindruck, dass die Hafterfahrung zu irreversiblen, negativen Veränderungen ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens geführt hatte. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass Gedankenprozesse während der Haft und die Interpretation ihrer Folgen mit chronischer PTBS zusammenhängen. Sie schreiben: „Eine gefestigte politische Überzeugung konnte vor psychischen Folgen von Traumatisierung schützen.“ Mit Resilienzfaktoren bei ehemaligen Häftlingen der DDR beschäftigten sich auch Wissenschaftler der FU Berlin. Sie stellten fest, dass nach der Haft seltener psychische Beschwerden auftraten, wenn die Betroffenen beruflich integriert waren, über viele soziale Kontakte verfügten und der Hafterfahrung positive Einflüsse auf ihr weiteres Leben abgewinnen konnten, wie beispielsweise Reifung, Gewinn an Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und Urteilsfähigkeit, Gespür für gefährliche Situationen, Solidarität unter Häftlingen und Veränderungen persönlicher Werte.
Die Opfer des DDR-Regimes kämpften jahrelang für eine Entschädigung. Im September 2007 gestand der Bundestag schließlich 250 Euro Pension solchen politisch Verfolgten zu, die in der DDR mindestens ein halbes Jahr inhaftiert waren. Schätzungsweise 42 000 Betroffene haben Anspruch auf die Entschädigung. Missbrauchsfälle stellen neuerdings jedoch die Opferrente infrage. So nimmt zum Beispiel das Bundesland Brandenburg laut verschiedener Pressemeldungen immer häufiger Bescheide zurück, weil die Pensionsantragsteller für die Staatssicherheit tätig waren. Auch im Bundesland Sachsen versuchten ehemalige Stasimitarbeiter, staatliche Hilfe zu kassieren. Etwa zwei Prozent aller Anträge wurde von Personen mit Stasivergangenheit gestellt, wobei die Dunkelziffer möglicherweise höher liegt.
Es findet keine erfolgreiche Verarbeitung statt
Aber nicht nur der Entschädigungsmissbrauch nährt das wachsende Empfinden von Ungerechtigkeit bei den Stasiopfern. Auch die gesellschaftlichen Umstände, die eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem DDR-Regime und dem Leid der Opfer erschweren, die Möglichkeit, den ehemaligen Peinigern jederzeit zu begegnen sowie die unzureichende Bestrafung der Täter – einige ehemalige Stasimitarbeiter und SED-Mitglieder sind in hohen beruflichen Positionen oder beziehen üppige Renten – tragen nicht gerade zu einer erfolgreichen Verarbeitung des erlittenen Unrechts bei.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser