Die DDR-Opfer waren sechs Monate bis 81 Jahre alt
Mindestens 327 Menschen starben 1949 bis 1989 an den Sperren zwischen SED-Diktatur und Bundesrepublik, zeigt eine neue Studie. Hinzu kommen die Toten der Berliner Mauer. Weitere Forschungen sind nötig.
Die DDR-Grenzanlagen an der innerdeutschen Grenze haben weniger Menschen das Leben gekostet als bisher geschätzt. Nach jetzt veröffentlichten Ergebnissen des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin fielen diesen Sperren zwischen 1949 und 1989 mindestens 327 Männer, Frauen und Kinder aus Ost und West zum Opfer, zusätzlich zu den mindestens 139 Toten an der Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989.
Bislang lagen gängige Schätzungen für beide Grenzsysteme bei rund tausend Opfern oder etwas mehr. Dagegen sind die Angaben der Arbeitsgemeinschaft 13. August, die in Berlin das private Mauermuseum Haus am Checkpoint Charlie betreibt, bekanntermaßen stets zu hoch. Der Verein arbeitet wenig seriös und mit viel zu weiten Definitionen. Zuletzt war im August 2016 die Zahl von 1841 Todesopfern genannt worden.
Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder, Direktor des Forschungsverbundes und Leiter der Studie, hat mit seinem Team insgesamt 1492 Verdachtsfälle überprüft. In 327 genau definierten Fällen fanden die Wissenschaftler die Vermutung bestätigt, dass es sich um Opfer der innerdeutschen Grenze handelte.
Großen Wert legt Schroeder auf die Feststellung, dass die jetzt ermittelte deutlich kleinere Zahl keinesfalls eine Relativierung bedeute. Im Gegenteil bestätige das nun gesicherte Wissen die Schrecken des DDR-Grenzregimes. Ausdrücklich nicht enthalten in den 327 bestätigten Todesfällen an der 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze sind die Todesfällen von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über die Ostsee oder über die Grenzen anderer Ostblockstaaten. Hierzu seien weitere Recherchen ähnlicher Art notwendig.
Bei den Opfern des DDR-Grenzregimes handelte es überwiegend um junge Arbeiter, Bauern und Handwerker. Etwa jeder zweite starb im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, knapp jeder dritte zwischen 25 und 35 Jahren. Auch 19 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren kamen an den Sperranlagen ums Leben. Nur knapp jedes neunte Opfer war weiblich. Das entspricht in etwa den Ergebnissen der Vorläuferstudie zu den Opfern der Berliner Mauer.
Ein sechs Monate alter Säugling, der im Juli 1977 im Kofferraum eines Fluchtfahrzeugs erstickte, war der jüngste Tote des Grenzregiments. Der älteste Tote wurde 81 Jahre alt – es handelte sich um einen Bauern, der 1967 versehentlich in ein Minenfeld geriet. Die Detonationen rissen ihm beide Beine ab, sein Sterben dauerte mehr als drei Stunden, also länger als bei dem wohl bekanntesten Maueropfer Peter Fechter. Der Bauer verblutete unter den Augen eines Arztes der DDR-Grenztruppen, der sich nicht in den verminten Grenzstreifen wagte.
Splitterbomben gegen Republikflüchtlinge
Die 327 Todesopfer im Grenzgebiet lassen sich nach den Studienergebnissen gruppieren: 114 von ihnen versuchten tatsächlich zu flüchten und scheiterten tragisch. Weitere 42 Todesfälle hatten keinen Fluchthintergrund, die Menschen starben aber durch Feuer von DDR-Grenztruppen, durch Minen oder Unfälle im Grenzraum oder in den Grenzanlagen.
31 Grenzgänger, die also die Grenze nach DDR-Regeln passieren durften, wurden trotzdem von Grenzpolizisten oder Grenztruppen erschossen. 24 fahnenflüchtige DDR-Posten kamen in Grenznähe ums Leben. Weiterhin zählten die Forscher elf Suizide nach Festnahmen im Grenzgebiet, sechs Selbstmorde im Zusammenhang mit Zwangsaussiedlungen aus dem Grenzgebiet und fünf Flüchtlinge, die nach Fluchtversuchen durch Grenzgewässer vermisst blieben. Drei Deserteure der sowjetischen Armee wurden im Grenzgebiet erschossen, außerdem zwei westdeutsche Zollbeamten, die von DDR-Grenzpolizisten erschossen wurden.
24 Todesfälle geschahen bei Ausübung des DDR-Grenzdienstes, meist im Rahmen des Wehrdienstes: Neun Grenzsoldaten wurden von Fahnenflüchtlingen erschossen. Acht Grenzer starben, die ihre Kameraden fälschlich für Flüchtlinge hielten. Drei Grenzsoldaten fielen bewaffneten Zivilisten zum Opfer. US-Patrouillen töteten drei DDR-Grenzposten, der Bundesgrenzschutz einen.
Weitere 21 Todesfälle wurden „im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes“ dokumentiert, darunter acht ehemalige DDR-Grenzpolizisten, die hingerichtet wurden, und sechs Menschen, die von fluchtwilligen Deserteuren von Ostblockarmeen erschossen wurden.
Ebenfalls detailliert untersucht wurden 44 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten mit dienstlichem Hintergrund. „Viele von ihnen verrichteten diesen Dienst nicht aus freiem Willen, manche zerbrachen daran“, sagte der Historiker Jochen Staadt, Mitautor der Studie: „Auch ihnen wurde das DDR-Grenzregime zum tödlichen Verhängnis.“
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), aus deren Haushalt das Projekt zusammen mit den Ländern Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen gefördert worden ist, sagte: „Die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufrechtzuerhalten ist ein zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur.“
Die neuen Forschungsergebnisse gäben den Todesopfern der innerdeutschen Grenze Namen und Gesicht zurück. „Das sind wir den Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen.“